Meine Mutter war ja nun mal weg.
Die Familie war explodiert, und so entschied ich mich, den Zusammenhalt zu gewährleisten, alles zu tun und zu opfern, um die Familie wieder zu einem glücklichen Ganzen zu machen.
Das betraf auch Weihnachten, eine Zeit, die mich stets sehr glücklich gemacht hatte- besonders die Zeit davor, wenn meine Eltern vergeblich versuchten, die Geschenke vor meinem Bruder und mir zu verstecken, oder sich auf spanisch über eben diese Geschenke zu unterhalten (obwohl ich schnell ahnte, wo sie die Geschenke versteckt hielten, schaffte ich es immer, mir selbst die geliebte „Bescherung“ am 24.12. nicht zu vermasseln und forschte nicht weiter nach).
Mein Vater hatte zu dieser Zeit eine Freundin, blond war sie und Trinkerin, wie mein Vater. Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ich hatte mit dem Fortgang meiner Mutter einige der nun vakanten Posten übernommen- einer musste es schließlich tun- unter anderem die Ausrichtung des Weihnachtsfestes.
Es gab Fondue. Immer.
Es gab Händels „Messias“. Immer.
Und es gab den Baum, der ein paar Tage vor dem 24.12. gekauft werden musste (dazu musste es schneien, die ganze Sache war wertlos, wenn wir nicht mit dem Baum unter den Armen durch die verschneiten Straßen in die Güntzelstrasse stapften),es musste eine Blaumanntanne sein, mindestens so und so groß mit eleganter Spitze –für den Weihnachtsengel (der in einer Glaskugel eingesperrt war. Kein Wunder, dass Weihnachten oftmals so verheerend endet, wenn man die Engel wegschließt und sie an der Arbeit hindert).
Es gab die südamerikanische Krippe aus Ton (auf einer Tourismusmesse erstanden), die Zentimetergenau an dem und dem Ort unter dem Baum zu platzieren war.
Es gab die Kerzenhalter und den Schmuck, der –sorgsam in Küchenpapier gewickelt- 11 Monate im muffigen Keller auf seinen großen Moment wartete.
Die Zeremonie war immer die gleiche gewesen: Meine Mutter schmückte den Baum, legte die Geschenke drunter und bereitete das Essen zu, während die drei Männer den Weihnachtsspaziergang machten.
Immer im Grunewald (zu Zeiten, als man dort noch ohne Hund spazieren gehen durfte). Der Spaziergang war für mich eine Mischung aus qualvoller Spannung und nervöser Vorfreude. Es gab nichts Wichtigeres auf der Welt.
Was würde ich unter der Blaumanntanne finden?
Bei der Gelegenheit muss ich erwähnen, dass ich NIE die „Carrera-Bahn“ dort liegen fand, die ich mir so sehr gewünscht hatte.
Ein Trauma unter dem ich lange litt.
Als wir nach Hause kamen, stürzte ich als erstes zur Wohnzimmertür, die mit geriffeltem Milchglas eingefasst war: schemenhaft erkannte ich den Baum, das Glitzern der Kugeln (Kein Lametta!! Das war der Inbegriff der Bürgerlichkeit!) und irgendwas, was da drunter lag (vielleicht ja diesmal die „Carrera-Bahn“?). Dann gingen wir in unsere Zimmer, zogen uns um, während auch unsere Eltern sich fein machten.
Meine Mutter zündete die Kerzen an und legte den unvermeidlichen „Messias“ auf. Dann klingelte sie mit einem Glöckchen und zu den jauchzenden „Halleluja“-Rufen des Chores betraten wir ehrfurchtsvoll das Wohnzimmer (welches bei uns „Bibliothek“ hieß- auch ein stiller Protest gegen die Bourgeoisie).
Pflichtbewusst wurde zuerst der schöne Baum gelobt und wie prächtig und wohl ausbalanciert der Schmuck wieder gehängt wurde (samt eingekerkertem Weihnachtsengel). Dann stürzten mein Bruder und ich uns in Richtung Geschenke. Wie die Passagiere von Billigfluglinien, die in vollkommener Todesverachtung über das Rollfeld hasten, um den besten Platz zu ergattern.
Die Hitze der Kerzen und der Geruch des brutzelnden Öls im Fonduetopf rundeten das Bild ab. Ein schönes Bild.
Ich hatte also die Rolle meiner Mutter übernommen und ALLES genauso wie immer hergerichtet. Verzweifelt die korrekte Blaumanntanne gesucht und gefunden, das richtige Fondue-Fleisch bei „Bachhuber“ bestellt und abgeholt und so weiter. Generalstabsmäßig.
Mein Bruder hing schlecht gelaunt in seinem Zimmer rum und fand Weihnachten Scheiße. (Naja, ich würde den Narren schon eines besseren belehren! Was muss, das muss. Wenn ich hier schon einknicke, dann wird’s nix mit dem ganz großen ‚Happy End’. Armer Tonio).
Es war alles angerichtet: Baum (wohl ausbalanciert geschmückt) samt Weihnachtsengel und Krippe, darunter die Geschenke, auf dem Tisch das Essen, auf dem Plattenspieler der „Messias“.
Alles da.
Nur mein Vater nicht. Er war mit seiner Blondine vor Stunden losgezogen, „auf ein Bier“. Er war nicht da und würde auch in den nächsten zwei Stunden nicht auftauchen.
Ich saß da, die Schürze um, die meine Mutter auch immer getragen hatte (was muss, das muss) und versank in tiefe Traurigkeit., wie ein Soldat, der mit seinem Lieblingspanzer in die Schlacht ziehen wollte, aber der Feind hatte abgesagt.
Mein Bruder fläzte vor dem Fernseher- ich hatte die „Bibliothek“ in meiner Not mittlerweile freigegeben, ein unverzeihlicher Bruch des Protokolls.
Er sah sich in seiner Haltung gegenüber dem „Scheiß-Weihnachten“ bestätigt und mochte sich dafür, es sei ihm gegönnt, er hatte zu jener Zeit nicht viel Anlass, sich zu mögen.
Im Fernseher lief wahrscheinlich der „Seewolf“ (unvergessliche „Kartoffelszene“) oder ein Weihnachtsfilm mit Jimmy Stewart.
Das Öl im Fondue-Topf brutzelte nicht mehr- der Spiritusbrenner war leer, ich hatte nichts mehr nachgeschüttet.
Wozu auch?
Dann kamen die beiden.
Mein Vater voller Scham und voller Bier, die Blondine nur voller Bier. Mein Vater strich mir schuldbewusst über den heißen Kopf und roch nach Eckkneipe. Die Blondine lächelte verblödet und versuchte sich in Weihnachtsbotschaften aus dem Kalender.
Ich war ungeheuer beherrscht. Soldat.
Ich straffte wortlos meinen kleinen Körper, goss Spiritus in den Behälter unter dem Fonduetopf , zündete ihn an und marschierte in die Küche, um das Essen wieder hereinzutragen, das ich im Kühlschrank verstaut hatte.
Die beiden hatten sich neuen Treibstoff eingeschenkt und saßen mit glasigen Augen am Tisch. „Der ist aber schön“, sagte die blonde Frau und zeigte auf die Blaumanntanne. Ich nahm es zur Kenntnis, wie man es zur Kenntnis nimmt, wenn man soeben vom Friseur kommt, der einem wieder einmal die Frisur und damit das Leben versaut hat, und Irgendjemand sagt: „Oh, das steht Dir aber gut“.
Ratlos.
Schweigend servierte ich Soßen, Kräuterbaguette, Mixed Pickles und zum Schluss das Fleisch, abgehangene „Blume“ von erwähntem Fleischer Bachhuber.
Ich muss gestehen, dass ich-wohl in Folge der schrecklichen Ereignisse- völlig verdrängt habe, ob, wann und wie die „Bescherung“ stattgefunden hatte.
Es muss sehr schmerzhaft gewesen sein.
Im Gegensatz zu meinem Bruder gab ich den Freundinnen meines Vaters immer eine Chance (ganz einfach: wenn es ihm gut ging, ging es uns gut).
Mein Bruder nicht. A priori.
Und das, obwohl ich es war, der (heimlich) zu meiner Mutter hielt, nicht mein Bruder. Er hatte sich auf die Seite meines Vaters geschlagen –zumindest vordergründig- und meine Mutter vom Augenblick Ihres Weggangs an aus seinem Herzen geschmissen. Eine andere Art, mit dem Schmerz umzugehen, der auch bei ihm enorm gewesen sein muss. Ich hätte also allen Grund gehabt, die meist jüngeren Damen abzulehnen und zu schikanieren. Es kam mir nicht mal in den Sinn, es ging schließlich um den Erhalt dessen, was übrig geblieben war. Ich sah auch keinerlei „Konkurrenz“ für meine Mutter in den Freundinnen.
‚Vorübergehend’, muss ich gedacht haben, ‚bis Mamá wieder kommt’.
Alles war also bereit.
Widerwillig setzte sich auch mein Bruder an den Tisch. Im Hintergrund Händel, dessen „Messias“ zum Soundtrack des nun folgenden Grauens wurde, und der für mich wohl auf ewig mit dem Debakel verbunden bleiben wird.
Die Kerzen am Baum hatte ich löschen müssen, sie waren längst runtergebrannt, das Timing war schon lange im Arsch. Ich hatte meine erste Fonduegabel ins heiße Fett getaucht, da erhob sich die blondierte Frau, um vor dem Essen nochmal „aufs Örtchen“ zu gehen.
Dass ihr Bierpegel weit über Normal lag wurde uns allen in diesem Moment klar – und ihr zum Verhängnis. Sie taumelte, wankte, suchte Halt an der Tischkante – zu spät.
Ihrer Reaktionsfähigkeit zum großen Teil beraubt, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich am Weihnachtsbaum festzuhalten, der in dankbarer Reichweite stand, jedoch dem Gewicht und der Wucht einer, mit Bier gefüllten Blondine nichts entgegenzusetzen hatte. Unter herzzerreißendem Seufzen gab sie nach, die Blaumanntanne, und neigte sich dem Boden zu, schlug knapp neben der Krippe auf.
Ein paar Christbaumkugeln knirschten ihr Leben aus, allein der große Weihnachtsengel in seiner gläsernen Kugel schien auf der Spitze des Baumes ausharren zu wollen.
Doch schließlich musste er einsehen, dass es auch für ihn das letzte Weihnachten sein würde. Es klirrte sanft, der gläserne Käfig zersprang und der Engel war in Freiheit – endlich.
Er stolperte in Richtung Balkontür, so, als wolle er sogleich Gebrauch von seiner neuen Freiheit machen.
Die Blondine hatte noch „Huch“ gerufen (als ob das helfen könnte) und lag nun wie das dicke Christuskind in einem Bett aus Blaumanntanne.
Sie war, wie gesagt genau neben der Krippe aufgekommen und so schaute sie der weise König aus dem Orient von der Seite aus an, in seiner Hand die Gaben.
Weihnachten eben.
Ein schönes Bild.
Dazu Händel. Halleluja!
Ich sehe in Zeitlupe vor mir, wie mein Vater entgeistert aufsprang um zu helfen, ich höre das schallende Lachen meines Bruders, der Weihnachten in diesem Moment wieder zu mögen begann.
Ich erstarrte, erfror.
Mein Entsetzen ist nicht in Worte zu fassen. Tränen schossen in meine Augen, ich stand auf, riss mir die Schürze vom Körper und rannte in mein Zimmer.
Etwas Unfassbares war geschehen: Weihnachten war gefallen! Diese Schlacht musste ich für immer verloren geben. Es war schmerzhaft, ja, aber es gab ja noch andere Fronten!
Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, ob es nicht vielleicht ein Fehler gewesen ist, die Kerzen auszumachen bevor das Unfassbare seinen Lauf nahm.