Ich hatte mich bereits mit seinem Tod abgefunden. Er war gestorben, weggegangen, hatte sich verabschiedet von der Welt, die doch immer alles bedeutet. Kein Lied mehr singen, während er am Klavier saß, und über seine Brille hinweg die Einsätze gab.
Keine Musik mehr hören und darin schwimmen, gemeinsam mit den Meistern : Bill, Oscar, Erroll, Sarah und Miles.
Seine Frau hatte mich angerufen. „Gestern, um 18.14 Uhr hat er uns verlassen.“ Ich schwieg, es ist ein Tritt in den Bauch, alles fliegt weg von einem. So stelle ich mir die schwarzen Löcher im Weltraum vor: Eine Explosion, dann ein Blitz, dann zieht sich irgendwas zusammen und bildet ein Vakuum so groß wie das Saarland.
„Ich war bei ihm, er hat noch eine CD gehört, dann fing er schwer zu atmen an und dann ging er. Es war 18.14 Uhr „
Hatte sie auf die Uhr gesehen? Hing eine Uhr an der Wand des Krankenzimmers? Eine, mit kleinen, schwarzen Täfelchen, die im Minutentakt umklappen? War der Gerichtsmediziner eingetreten, hatte den Puls gefühlt und mit krakeliger Schrift in ein gelbes Dokument „18.14“ eingetragen?
Wohin geht man, wenn man geht. Niemand scheint es zu wissen. Außer mir.
(Man geht einkaufen. Für die Party.)
Ich war nämlich gestern Nacht auf seiner Party. Kleiner Kreis, enge Freunde, die meisten davon Musiker. Barbara , seine Frau, huschte im Hintergrund durch die Wohnung und schaffte Wein und Kanapees von hier nach dort, lies alles über den gierig geöffneten Mündern der Musiker fallen, wie eine Vogelmutter. Jazz. Er sah jung und friedlich aus, hatte abgenommen. Nicht durch den Krebs, eher durch die erfrischende Heilkraft des Todes. Frei von den Aufgaben des täglichen Lebens, frei von dem, was „Pflichten“ genannt wird. Er wirkte abwesend, als könne er sich noch nicht entscheiden, zwischen dem Reich der Toten und dem der Pflichten (Lebenden). Er brachte etwas Jenseitiges mit , es vermengte sich mit dem Zigaretten-Rauch. Beneidenswert. Unnahbar. Ich dachte : Für einen Toten siehst Du fast zu gut aus, mein Freund. Wie kommt es eigentlich, daß Du hier bist und nicht dort. Deine Frau hatte mich angerufen, um 18.14 Uhr bist Du gegangen. Und jetzt eine Party. Zu Deinen Ehren? Abschied? Heimkehr? Wiedergeburt? Mir fiel ein, daß seine Frau mich ein zweites Mal angerufen hatte.
„Es geht ihm besser. Es ist ein Wunder, aber es geht ihm besser. Die Ärzte sind sprachlos. Er ist noch schwach, aber er erholt sich. Stell‘ Dir vor!“
Ich brachte die beiden Anrufe nicht zusammen, denn die Nachricht seines Todes erreichte mich vor seiner wunderbaren Genesung. Im Hintergrund spielte Bill Evans „Israel“. Ich bin sicher, es wurde für eine Wiederauferstehungs-Party geschrieben.
Ich wollte mit ihm über seinen Tod reden, über die Krankheit, über meine Trauer,mein Mitgefühl.
Er schien es zu ahnen, lenkte ab, drehte sich weg, wandte sich Anderen zu. Als könne er riechen, was käme.
Er legte einen Zettel und einen Stift vor mich hin und sagte:“ Schreibst Du mir bitte Deine genaue Adresse auf, ich lege ein Verzeichnis meiner Freunde an. Vielleicht lohnt es sich nicht mehr, aber ich mach’s trotzdem“
Ich nahm den Stift und wollte sagen: “ Natürlich lohnt es sich noch“, sagte aber nichts, spürte nur, wie warme Tränen aufstiegen und meine Augen füllten wie eine Waschmaschine.
Er drehte sich wieder leicht zur Seite , meine Trauer schoss an ihm vorbei in den Raum, wo Bill Evans spielte und die Freunde tranken und wo das Leben war , klar und blau.
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